Sechs Jahre nach Hamburg darf in diesem Jahr Essen den Titel Grüne Hauptstadt Europas (GHE) tragen. Schlagendes Argument bei der Bewerbung war die erfolgreiche Bewältigung des Strukturwandels und die Umgestaltung ehemaliger Industriebrachen in attraktive Wirtschafts- und Freizeitstandorte: viel Grün, wo vorher Grau war. Ebenso wie Hamburg damals hatte Essen gegenüber seinen Konkurrenten aber ein gewaltiges Manko beim Thema Mobilität: autobahnähnlich ausgebaute innerstädtische Straßen, über die sich die Blechlawinen wälzen und alles mit ihren Abgasen einnebeln, während der mickrige verbleibende Restraum für Fußgänger und Radfahrer vielfach auch noch als illegaler Parkraum für Kraftfahrzeuge missbraucht wird, ohne dass deren Halter sich ernsthafte Sorgen um Konsequenzen machen müssten.
Was also tun? Das Thema offensiv anpacken, wie es als GHE-Bewerber zuletzt Ljubljana erfolgreich vorgeführt hat? Indiskutabel, denn das würde ja bedeuten, "den Verkehr" einzuschränken, der in der Essener Definition ausschließlich motorisiert erfolgt. Um ihre Bewerbungschancen dennoch nicht komplett zu zerschießen, beschloss die Stadt eine Doppelstrategie: zum einen die ohnehin laufende Weiterentwicklung der bereits heute teils sehr schönen touristischen Radrouten u.a. auf alten Bahntrassen – lobenswert, allerdings mit begrenztem verkehrstechnischen Nutzen.
Zum anderen die Behauptung, bis zum Jahr 2035 einen Modal Split aus vier gleichgroßen Teilen erzielen zu wollen: jeweils 25 % Rad-, Fuß-, Öffentlicher Nah- und motorisierter Individualverkehr. Wie das genau geschehen sollte, ohne letzteren in irgendeiner Weise einzuschränken und mit einem Einsatz von knapp 90 Cent pro Einwohner und Jahr, darüber hüllten sich die Verantwortlichen, nein, nicht in Schweigen, aber in diffuses Fantasiegeschwurbel, das jedoch ausreichte, um die Jury am Ende ihre Bauchschmerzen ignorieren zu lassen. Den größten Anteil an diesem Erfolg dürfte der harte Kern der ansonsten watteweichen Aussagen gehabt haben: Der zügig geplante Weiterbau des Radschnellwegs Ruhr, kurz RS1. Während zwischen Mülheim/Ruhr Hauptbahnhof und der Essener Stadtgrenze bereits die Fahrbahn im Radschnellwegstandard mit getrenntem Fußweg gebaut wurde, ist der künftige RS1 im Essener Westen bis zur Universität nördlich der City derzeit noch ein gemeinsamer Rad- und Fußweg, teils wassergebunden, mit einigen für gemischten Verkehr deutlich zu engen Brücken und einer sehr zeitraubenden Ampelquerung am Berthold-Beitz-Boulevard. Für diesen Abschnitt wurde der baldige Ausbau zu einem "richtigen" Radschnellweg zugesagt, einschließlich der lang ersehnten Brücke über den BBB. Die gute Nachricht: An dieser Stelle sollen den Worten tatsächlich noch in diesem Jahr erste Taten folgen!
Mit viel größerer Spannung blickten die Radfahrer jedoch bereits seit Jahren von der Essener Uni Richtung Osten; auf der Karte sind das die Abschnitte E04 bis GE01: Wann wird es hier endlich weitergehen? Erst Mitte Januar erschien die erlösende Nachricht auf der offiziellen RVR-Seite zum RS1: Jetzt sofort! Und zwar durchgehend auf dem alten Damm der Rheinischen Bahn und mit weitgeschwungener Brücke über die vielbefahrene Gladbecker Straße (auf dem Foto im Hintergrund die Uni, davor der Bahndamm Richtung Mülheim; an der Mauer rechts beginnt der Bahndamm Richtung Gelsenkirchen/Bochum):
Der Euphorie folgte am 24. Januar der Schock: Nichts wird weitergehen, denn Vertreter von SPD und CDU haben das bereits im November im Ausschuss für Stadtplanung erfolgreich geblockt! Durch ihren eilig beantragten Planungsstopp für die Trasse südlich des Eltingviertels ganz im Westen von "E04" wurde verhindert, dass der hochoffizielle erste Spatenstich für diesen Abschnitt wie beabsichtigt noch im November hätte erfolgen können. Das wäre aber dringend nötig gewesen, denn im Dezember trat die Verschärfung des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) in Kraft, weshalb nun für den Teil des Weges, der am Chemiewerk Evonik Goldschmidt vorbeiführt, eine langwierige UVP nebst noch langwierigerem Planfeststellungsverfahren gefordert ist. Keine zwei Tage nach Abschluss der feierlichen Eröffnungsparty zur Grünen Hauptstadt droht dem einzig nennenswerten Verkehrsprojekt der Bewerbungsmappe nicht nur ein langjähriger Baustopp, sondern auch eine dauerhafte Lücke, mitten auf der wichtigsten Achse im Herzen des Ruhrgebiets! Und das wegen diffuser "Quartiersentwicklungspläne", die auch den Abriss des wichtigen Bahndamms beinhalten, und seit Jahren sorgfältig unter Verschluss gehalten werden.
Eine kompakte, aber umfassende Übersicht der Faktenlage und der dahinter stehenden Interessen hat Mirko Sehnke vom ADFC Essen hier zusammengestellt (Stand 27.01.2017).
Für Samstag, den 28.01.2017 um symbolträchtige 11:55 rufen die Essener Radverbände zu einer Infoveranstaltung am umstrittenen Ort auf. Dass Olaf und ich hingehen, versteht sich von selbst. Karo, mitten in der Vorbereitung auf einen Haufen wichtiger Klausuren, überwindet ihr schlechtes Gewissen, die Bücher mal für ein paar Stunden liegen zu lassen; aus Sorge, es wäre noch größer, wenn sie nicht dabei ist. Viel zu früh sind wir vor Ort, und ich werde gleich per Armbinde zum Ordner ernannt. Nicht dass irgendwelche Randale zu erwarten wäre – auch die anwesenden Kollegen von der Essener Polizei sehen der Veranstaltung sehr entspannt entgegen – aber die zugesagte Anzahl an offiziellen Ordnern soll frühestmöglich sichergestellt werden.
Langsam füllt sich der Viehofer Platz am nördlichen Ende des Essener Stadtkerns. Neben Massen von grundsoliden Alltagsrädern gibt es auch einige ausgefallene Exemplare zu bewundern, wie das Vintage Bike von Dan:
Olaf nutzt unsere frühe Ankunft, um noch schnell eine Kletterpartie auf den umkämpften Bahndamm zu unternehmen und ein paar Fotos zu schießen. Hier der Blick nach Osten; rechts sieht man das frisch renovierte Hochhaus am Viehofer Platz, das nach den Träumen der Spekulanten zusammen mit dem Bahndamm und den angrenzenden Wohnhäusern planiert werden soll – alles unter der Behauptung, bezahlbaren Wohnraum schaffen (!) zu wollen.
In die Gegenrichtung erahnt man auf der rechten Seite hinter dem Bauzaun noch den traurigen Überrest des abgefackelten historischen Reiterstellwerks. Werfen die aktuellen Entwicklungen möglicherweise ein neues Licht auf die damalige Brandstiftung? Das Reiterstellwerk war in der kurz zuvor veröffentlichten Machbarkeitsstudie noch als ein wichtiger Pluspunkt einer Führung des RS1 auf dem Bahndamm erwähnt worden und drohte, unter Denkmalschutz gestellt zu werden. Das hätte das prompte Aus für die Abrisspläne des Bahndamms bedeutet, und wir müssten jetzt nicht hier stehen. Da kommt man schon ins Grübeln…
Gegen 11:45 haben sich bereits über 100 Radfahrer eingefunden. Die Critcal Masses aus den Nachbarstädten sind alle vertreten – Duisburg wie üblich in unterkritischer Besetzung. Viele Teilnehmer haben Heckenscheren und ähnliches Werkzeug dabei, um klarzumachen, dass sie durchaus bereit sind, sofort und persönlich mit den nötigen Vorbereitungsarbeiten auf dem Bahndamm zu beginnen.
Der Presseauflauf ist beeindruckend: WAZ und Radio Essen versteht sich von selbst, aber auch RTL und ZDF sind vor Ort und führen zahlreiche Interviews. Die "Welt" hatte im Vorfeld bereits über den Fall berichtet. Als GHE steht man eben doch ein bisschen mehr im Scheinwerferlicht als im Normalbetrieb, und im besten Fall leuchten die Scheinwerfer dann unerwartet doch ins kuschelige Hinterzimmer an den Mauscheltisch. Hoffen wir es!
Pünktlich um 5 vor 12 eröffnet Frank Rosinger vom Essener ADFC die Kundgebung. Hinter den von ihm vorgetragenen Forderungen stehen wir alle geschlossen:
- Aufteilung des RS1 bis Bochum in 3 unabhängige Abschnitte,
- UVP und Planfeststellungsverfahren nur für Abschnitt 2 direkt am Chemiewerk,
- Abschnitt 3, östlich von Evonik bis zur Bochumer Stadtgrenze: Planung und Bau wie Mitte November verkündet unverzüglich starten,
- Abschnitt 1, im Westen, südlich des Eltingviertels: Unverzüglicher Planungsbeginn einschließlich der Brücke über die Gladbecker Straße, Erhalt des Bahndamms und der Brücken.
- sofortiger Bau aller baufähigen Teilabschnitte,
- Rodungsarbeiten bis Ende Februar abschließen,
- Einhaltung der baulichen Standards für Radschnellwege wie Kreuzungsfreiheit und Durchgängigkeit,
- Sicherung der Fördermittel und, ganz wichtig:
- Wiederherstellung des Vertrauens durch Offenlegung aller Pläne, Schluss mit der Mauschelei im Hinterzimmer!
Die Polizei ermöglicht uns den Luxus einer unbehelligten Überquerung des achtspurigen Viehofer Platzes, damit wir uns zum Gruppenfoto vor dem gefährdeten Bahndamm aufbauen können. Dass nur ja keiner dabei in die kostbaren neu gepflanzten Stauden reintrampelt, die sind nämlich ein ganz wichtiges GHE-Projekt!
Und jetzt bitte alle mal Daumen hoch!
Nachdem alle Bilder im Kasten sind, wird die Veranstaltung offiziell aufgelöst. Grünen-Ratsherr Rolf Fliß, nebenbei Vorsitzender und Urgestein der Essener Fahrradinitiative (EFI) bietet anschließend für Interessierte noch eine Radtour mit Informationen über die Details des umstrittenen Abschnitts und über den außerdem geplanten Bernetal-Radweg an.
Exakt 70 Teilnehmer (danke fürs Zählen, Jörg!) folgen der Einladung. Die Polizei nimmt die "spontane gemeinsame Radtour als geschlossener Verband" gelassen hin, obwohl wir uns nicht exakt an die vorgeschriebene Zweierreihenformation halten, sondern eine ganze Fahrspur in Anspruch nehmen – dies allerdings sehr diszipliniert. Am derzeitigen Ausbauende der Rheinischen Bahn südlich der Uni stoppen wir erstmals:
und kurz darauf 200 m weiter am Ende des Bahndamms an der Gladbecker Straße:
Geradeaus blickt man auf das Widerlager nördlich der einmündenden Blumenfeldstraße. Hier soll bald der Bernetal-Radweg seinen Anfang nehmen und nach einem scharfen Linksschwenk hinter der Häuserzeile den Anschluss zwischen RS1 und Berne-Route herstellen:
Auf der Südseite der Blumenfeldstraße liegt der für den RS1 vorgesehene Bahndamm, für dessen Erhalt wir weiter kämpfen werden. Somit drängt es sich förmlich auf, die beiden erforderlichen Brücken über die Gladbecker Straße gleich in einem Rutsch als zusammenhängende Y-Form zu bauen. Laut Rolf Fliß stehen die Zeichen dafür gut, denn er hat die Idee schon bei den verantwortlichen Stellen angebracht und ein insgesamt positives Echo erhalten. Es sieht also nicht alles duster aus im Zentrum des Kohlenpotts, ähem, der Grünen Hauptstadt natürlich!
Wenig später werfen wir aus nördlicher Richtung einen Blick auf die Brücke über die Schützenbahn, die den östlichen Abschluss des von Spekulanten bedrohten Abschnitts 1 bildet und selber ebenfalls ein Abrisskandidat wäre. Ein Schmuckstück ist sie nun wirklich nicht, aber voll funktionsfähig, deshalb kann man sie auch nutzen, verdammt! Ein Abriss würde eine bleibende Lücke im RS1 bedeuten, denn irgendeine auch nur halbwegs akzeptable Alternative für die Querung der Schützenbahn gibt es nicht.
Mitten über den vom UVPG betroffenen Abschnitt 2 führt die Herzogstraße, wo wir eine weitere Foto- und Infopause einlegen:
Von hier hat man einen guten Blick auf das Chemiewerk und die ab hier von Evonik immer noch teilgenutzte Bahnstrecke. "Unsere" Gleise braucht niemand mehr, aber wir die darunterliegende Trasse!
Zum Abschluss nimmt Ulrich Pabst, grüner Bezirksvertreter im Essener Nordosten, uns noch mit auf eine Infotour zur Intercity-Route, die in Abschnitten weiterhin so steil bleiben wird, dass Otto Normalradler lieber schiebt. Landschaftlich sehr hübsch, aber der Versuch der Stadt, die als Alternative zum auf Eis gelegten RS1 zu verkaufen, kann nur als schlechter Witz aufgefasst werden.
Bevor es an die Steilanstiege geht, klinken Olaf und ich uns mit ein paar anderen Teilnehmern aus und kehren in die City zurück. Karo war bereits nach der Kundgebung an ihre juristische Fachliteratur zurückgekehrt. An dieser Stelle herzlichen Dank an alle Organisatoren und Teilnehmer der Veranstaltung und auch an Team Blau, die trotz der kurzfristigen Anmeldung und des heißen Themas für einen sehr entspannten Ablauf gesorgt haben!
Gelohnt hat es sich auf jeden Fall, denn nach dem großen Medienrummel sind alle Verantwortlichen eifrig um Schadensbegrenzung bemüht. Bereits am Tag vor der angekündigten Demonstration kam die Nachricht, dass der geforderten Dreiteilung der Strecke entsprochen und der östliche Abschnitt zügig gebaut werden wird.
Keine vier Monate vor der NRW-Landtagswahl ist Landesverkehrsminister Michael Groschek (SPD) nicht bereit, sich sein Prestigeprojekt, für das er sogar eine Gesetzesänderung, die Gleichstellung von Radschnellwegen mit Landesstraßen, durchgekämpft hatte, in irgendeiner Weise beschädigen zu lassen. Zusammen mit Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) und den Fachjuristen aus beiden Ministerien klärt er momentan ab, ob es tatsächlich zwingend erforderlich ist, für einen Radweg das eigentlich für mehrspurige Straßen mit Kraftverkehr formulierte UVPG in aller Detailtiefe anzuwenden. Womöglich lässt sich aus der Gesetzeslage ja doch eine Möglichkeit für ein vereinfachtes und deutlich kürzeres Verfahren ableiten?!
Update, 01.02.2017, 16:53: Das Umweltministerium gibt grünes Licht!
Das einzige was jetzt noch fehlt, ist eine klare Aussage der Stadt Essen, die weiterhin unter Verschluss gehaltenen Pläne für den Abriss des Bahndamms am Eltingviertel zu begraben oder wenigstens mal zu veröffentlichen. Immerhin wird angekündigt, nach der nächsten Sitzung des Ausschusses für Stadtplanung, die Radverbände einzuladen, und ab dann auch prompt und umfassend zu informieren. Wir werden sie beim Wort nehmen: Am 02. Februar während der Sitzung ist schon mal eine Mahnwache vor dem Rathaus geplant.
Einen ganzen Stapel fundierter Lösungsvorschläge, das Eltingviertel ohne Abriss des Bahndamms nach vorn zu bringen, präsentiert Grünen-Geschäftsführer Joachim Drell im Lokalkompass. Die Abrisspläne wären ohnehin ein Rückschritt für das ganze Viertel: Wer will denn schon an eine achtspurige innerstädtische Pseudoautobahn, auf der sich die lokale Tuning-Szene bald jede Nacht illegale Rennen liefert, "angebunden" werden?!
Es bleibt jedenfalls spannend:
Und wir bleiben dran: RS1-Fanpage auf Facebook.
Facebook-Abstinenzler finden neue Informationen auch auf VeloCityRuhr.net und bei der WAZ Essen. Ich werde jedenfalls zusehen, euch auch hier auf HFS auf Stand zu halten. Für die Fotos (hier der ganze Stapel) ist wie immer Olaf zuständig: