Senza senso: Über neun Hügel sollst du fahren!
Ja, die NOVE COLLI. DAL 1971 – L’È ĆMINZÈ TÒT A QUÈ.
Aufmerksam geworden bin ich auf Italiens größten* Radmarathon schon vor vielen Jahren. Allerdings sind eine Streckenlänge von 205 km für mich zu weit, 3880 Höhenmeter zu hoch und hinzu kommt, dass der angestammte Termin zur Mitte des Monats Mai für mich auch zu früh ist, um überhaupt eine vorzeigbare Form zu haben.
(* In diesem Jahr mit 9812 Teilnehmern, davon 1231 aus dem Ausland, insgesamt 690 weibliche Teilnehmerinnen, der älteste Teilnehmer stammt aus dem Jahrgang 1934, die beiden Jüngsten aus 2007.)
So kann man die Redewendung des „Glück im Unglück“ wohl wörtlich nehmen, denn wegen Starkregen und Sturm mit fast apokalyptischen Folgen konnte die Veranstaltung im Mai diesen Jahres nicht stattfinden.
https://www.wetter.de/cms/unwetter-ital ... 43825.html
So wurde die 52. Auflage der Nove Colli auf den letzten Sonntag im September verschoben – das kommt meiner Formkurve also schon etwas entgegen.
Da etliche Straßen und Wege noch immer nicht befahrbar sind, wurde außerdem der Streckenverlauf angepasst:
So stehen für die September-Ausgabe „nur“ 170 km auf dem Streckenplan und auch bei den Höhenmetern gibt es einen „Rabatt“ von rund 1000 m.
Damit wandelt sich die Situation von „Nee, nix für mich.“ hin zu „Das ist eine lösbare Aufgabe.“
https://www.radsport-news.com/freizeit/ ... 35272.html
1971 – wie ich finde ein gutes Jahr, denn nicht nur der allererste Gran Fondo Nove Colli wird ausgerichtet, sondern
- in London eröffnet das erste Hard-Rock-Café,
- die erste Sendung mit der Maus wird ausgestrahlt,
- Greenpeace und die Ärzte ohne Grenzen werden gegründet,
- Joe Frazier und Muhammad Ali hauen sich im Madison Square Garden die Köpfe ein.
Eddy Merckx gewinnt zum 3. Mal die Tour de France und wurde zum 2. Mal Weltmeister.
Und einige mehr oder minder bedeutsame FahrerInnen werden geboren: Sabine Spitz, Jens Voigt, Steffen Wesemann, Gilberto Simoni, Tyler Hamilton, Lance Armstrong. Und Don Vito.
Also besteht qua Geburt schon eine gewisse Affinität zwischen mir und der Veranstaltung, also Jetzt oder nie, so günstig wie in diesem Jahr werden die Rahenbedingungen wohl nie wieder sein.
Nach einem Reise-Zwischenstopp am Bodensee (inkl. radlerischer Exkursion der Gegend Lindau/Bregenz/Vorarlberg) war ich einige Tage vor dem Event in Cesenatico angekommen.
Auf den letzten 200 km der Anreise beschlich mich ein komisches Gefühl:
Wo um alles in der Welt sollen denn hier die ganzen Höhenmeter gesammelt werden? Schließlich ist die Gegend hier so platt wie ein Ceranfeld, dagegen muten Dithmarschen oder das Oldenburgische wie die Ausläufer eines Mittelgebirges an.
Aber bei näherer Betrachtung findet sich dann eine sehr scharfe Trennline des Marschlandes hin zu den Ausläufer des Appenin, etwa an einer gedachten Linie Mailand-Bologna-Rimini.
Bei meiner ersten Einrolltour von Cesenatico durch die Republik San Marino war das eindrucksvoll zu erleben:
Quasi übergangslos von jetzt auf gleich wechselt es von flach zu hügelig, teilweise mit dem Effekt, dass auf der linken Straßenseite topfeben ist, während rechts der Straße eine völlig andere Landschaft beginnt.
Was leider auch zu dieser Gegend dazu gehört, sind sagenhaft schlechte Straßen. Ja ich weiß:
Gefühlte Statistiken sind nicht wirklich aussagekräftig, aber ich würde sagen, dass etwa 90% aller Straßen baufällig sind. Besondern fatal dabei sind die zahlreichen, recht breiten Längsrisse – es ist also nicht empfehlenswert, als Hans-guck-in-die-Luft unterwegs zu sein; mindestens ein Auge sollte immer kritisch auf die Fahrbahn vor dem eigenen Vorderrad gerichtet sein.
Der Grenzübertritt nach San Marino ist völlig unspektakulär: 2 Schilder a Straßenrand, danach sieht man nur an den Autokennzeichen, dass irgendwas anders ist, alles andere sieht wie zuvor völlig italienisch aus.
Allerdings wird die Straße hier mal so richtig schräg: Mit bis zu 19,6% muss ich mich hier heraufquälen, das ist definitiv nicht mein Wohlfühlbereich.
Am Tag darauf lasse ich es deutlich flacher angehen und radle mal rüber nach Rimini.
Am Tag 3 schlendere ich bisschen durch Cesenatico
und hole am kleinen, bescheidenen Vereinsheim des G.C. Fausto Coppi meine Startunterlagen ab.
Einer der berühmtesten Söhne der Stadt, Marco Pantani, ist hier nach wie vor wohl gelitten und allgegenwärtig: Dazu folgt noch ein eigenes Kapitel.
Das Wetter wäre die ganzen Tage vor dem Rennen perfekt gewesen – ausgerechnet zum Rennsonntag hin wendete sich das Blatt. Wobei es nach der Wetterapp und dem Regenradar dann doch noch in letzter Minute die Kurve hätte nehmen sollen:
Danach nur Regen in der Nacht, pünktlich zur Startaufstellung trocken bei 17°C und im Laufe des Vormittags sonnig bis 23°C. Ja, so hätte es sein können.
Aber dazu später mehr. Erstmal aufstehen. 5 Uhr früh. Warum tut man sowas? Runtertapsen in den Speisesaal des Hotels und Kohlenhydrate bunkern - so gut es eben um diese Zeit überhaupt geht.
Dann fertig machen – wegen der Wetterprognose lag die Entscheidung auf kurz-kurz, Unterhemd, für morgens noch die nicht regendichte, aber prima in der Rückentasche verstaubare Windjacke und wegen der noch feuchten Straße für die Schuhe Toe-Cover, damit die Socken nicht gleich vom Spritzwasser nass sind.
Im noch-dunkel-aber-gerade-hell-werdend die paar Meter zur Startaufstellung gerollt. Von oben trocken, aber nur 13°C. Was so beim Herumstehen im Block nicht viel ist. „Okay, dann fahre ich wohl erstmal mit der Jacke los und lege die dann bei ersten Pipi- oder Verpflegungstopp ab.“
Noch gar nicht ganz zu Ende gedacht, fängt es wieder an zu regnen, hört aber pünktlich zum Start um 7 Uhr auf. Block für Block wird gestartet, jeweils mit 4 Minuten Pause zum letzten Fahrer. Ich stehe im 4. Block und um 7:15 Uhr geht es auf die Reise.
Erstmal vorsichtig aus Cesenatico heraussschlängeln – mit nasser Straße, vielen Richtungswechseln, Fahrbahnteilern Kreiseln, böigem Wind usw. kommt noch nicht gleich „Freude am Fahren“ auf.
Grüppchen bilden sich, zerfallen wieder, einige haben Windallergie und mögen nicht vorne fahren und nach einer Dreiviertelstunde beginnt es wieder zu regnen und hört für lange Zeit nicht mehr auf: Wir sind dem von der Adria ins Landesinnere gezogenen Regen nicht nur gefolgt, nein: Wir haben ihn auch eingeholt!
Nach rund 30 km mit einem 33er Schnitt sind die flachen Kilometer passé und die ersten Mini-Huckel kommen, wodurch sich das Feld gleich umsortiert. Alles noch moderate Steigungsprozente, der Rhythmuswechsel klappt.
Die erste Verpflegung bei km 41 lasse ich rechts liegen und etwa ab km 47 beginnt es dann richtig mit der Kletterei auf einen „Dreizack“. Oben auf dem Pieve di Rivoschio lasse ich auch die 2. Verpflegung unbeachtet:
Bei Temperaturen zwischen 11-14°C und Wasserkühlung fließt kein Schweiß und der Getränkebedarf ist moderat.
Nach der nassen Abfahrt, die aber wie alle Abfahrten des Tages wirklich gut, leidlich zügig und für mich stressfrei zu bewältigen sind, stehen rund 20 fast flache km an, die ich in einer gut funktionierende Gruppe verbringe.
Was auffallend war: Ich habe noch nie dermaßen viele Leute mit Reifenpannen am Straßenrand stehen sehen. Bei keiner Veranstaltung, an denen ich in den vergangenen fast 35 Jahren teilgenommen habe, waren nur annähernd so viele Plattfüße zu bewundern: Keine 5 km am Stück, ohne dass ein oder mehrere gestoppte Fahrer an ihren Reifen hantierten, Platten en Gros. Dabei machten die Straßen einen eher sauber gewaschenen Eindruck und dass das alles Durchschläge am schadhaften Asphalt waren, kann ich mir auch kaum vorstellen. Was auch immer es war: Ich hatte auf Pirellis gesetzt, um Abstoßungsreaktionen mit dem italienischen Asphalt zu vermeiden und lag damit wohl ganz richtig.
Die Rennmitte ist erreicht und damit beginnt eine wirklich ernsthafte Kletterei:
Zuerst auf den Barbotto, der im Durchschnitt zwar nur mit 7% harmlos wirkt, aber einige Meter mit bis zu 18% in den Weg stellt. Hier oben erfolgt auch die Trennung der langen und mittleren Strecke; gleich danach folgt der Pertidicara, der sich von der Steilheit etwas milder gibt.
Allerdings sind beider Colli mit 507 und 653 Metern hoch genug, dass sich die Wolken daran festhalten und wir oben durch schön feuchte Tröpfenwolken fahren.
Unten in Novafeltria wartet bei km 103 eine im Streckenprofil gar verzeichnete Verpflegungsstation:
Auch wenn die Vorräte noch nicht aufgebraucht sind nutze ich sie, um eine Flasche frisch mit Isodrink, bzw. „Sali“, wie es hier heißt, zu füllen und einen der ausliegenden Riegel zu verdrücken. Außerdem verstoffwechsle ich an diesem Tag noch 2 Riegel und 3 Gels aus den eigenen Rückentaschen und wenn es auch bei dem einen Verpflegungsstopp bleibt:
Insgesamt 4 Pipi-Stopps kosten ein wenig Zeit – aber wenn man den ganzen lieben langen Tag keinen Tropfen ausschwitzt, muss die ganze getrunkene Flüssigkeit andersweitig wieder den Körper verlassen.
Noch lustiger wird es später am 791 m hohen Monte Pugliano: In dessen Anfahrt haben wir tatsächlich eine kleine Regenpause, fahren oben auf den letzten 200 Höhenmetern aber wieder in die Wolken. Auf der Rückseite hängen die Wolken allerdings komplett fest: Die ganze Abfahrt bis auf rund 200 m Höhe hinab geht es durch eine trübe, kalte Suppe – meine Kniescheiben fühlen sich auf der Abfahrt so an, als bekämen sie eine intensive Behandlung mit Eis-Spray.
So tut es richtig gut, dass es gleich wieder in den Anstieg zu Passo delle Siepi geht – mehr körpereigene Abwärme und weniger Fahrtwind helfen ganz gut gegen den nun wieder stärkeren Regen.
Auf der Anfahrt zum letzten richtigen Anstieg des Tages, dem Sogliano, geschieht es dann doch noch:
Der Regen hört auf und die Sonne kommt heraus! Nach 130 km und 5 Stunden Fahrzeit ist es also so weit:
Die Windjacke darf in der Rückentasche verschwinden und die Holsteiner Tricolore wird doch noch stolz durch Italien kutschiert.
Die Abfahrt auf gutem, abtrocknenden Asphalt macht noch einmal Spaß und mit 2 andere Fahrer bilde ich ein Grüppchen, das an einen weiteren Fahrer heranspringt und nach und nach wachsen wir zu einer recht stattlichen und flotten Truppe heran, die es letzten flachen Kilometer bis ins Ziel noch einmal richtig fliegen lässt.
Am letzten Kilometer erfolgte noch eine Trennung der 130 km- und 170 km-Felder:
Während die 130er geradeaus ins Ziel rollen, machen wir noch einen Bogen – wohl um wirklich auf die volle Kilometeranzahl zu kommen.
So ging es dann relativ entspannt über den Zielstrich: Mit 6:30:34 Std. reiner Fahrzeit und insgesamt 6:37:49 Std. unter diesen Bedingungen mehr als okay.
Ich steuere danach nicht den Bike-Park an, sondern rolle direkt ins Hotel um die noch teilweise nassen Klamotten los zu werden und unter die wohlig-warme Dusche zu springen.
Frisch-duftig geht es dann zurück zur Pastaparty (sind nur rund 8 Minuten Fußweg). Die Wartezeit ist zwar lang, aber das Essen gut & reichlich. Danach noch einen höllisch heißen und starken Espresso und das Highlight des Nachmittags:
Eine kostenlose Massage. So überrannt die Pasta-Party ist, so ruhig ist es bei der Massage. Der Chef nimmt mich nach allen Regeln der Kunst krachend-knacksend auseinander, fügt mich aber offenbar auch in richtiger Sortierung wieder zusammen: Danach fühle ich mich jedenfalls fast wie neu geboren.
Auf dem Weg zurück ins Hotel noch mal schnell bei Marco vorbei:
Der hat diesen Tag offenbar auch nicht still auf seinem Sockel verbracht, denn um seinen Hals baumelt auch eine Finisher-Medaille: „Ben fatto, vecchio pirata!“