L'Eroica 2013: Wir sind Helden (Berichte, Fotos + Video)

Benutzeravatar
Harterbrocken
A-Lizenz-Schreiber
Beiträge: 1520
Registriert: 28.05.2011, 09:43
Wohnort: Williamsburg

L'Eroica 2013: Wir sind Helden (Berichte, Fotos + Video)

Beitragvon Harterbrocken » 09.10.2013, 22:09

Bild

Vorbemerkung:

Stahl und Staub sind unsere Leidenschaft. Darum bin ich wieder mit einem kleinen Team zur L'Eroica in die Toskana gefahren. Jeder hat seinen persönlichen Radsport-Favoriten. Meiner ist definitiv die L'Eroica. Warum? Schwer in Worte zu fassen. Um die Faszination wenigstens ansatzweise auszudrücken, habe ich den folgenden Bericht nicht in der forumstypischen Ich-Form geschrieben, sondern aus der Reporter-Sicht, also quasi aus der dritten Person heraus. Das ganze ist darum natürlich eine subjektive Sicht der Ereignisse.

Bild
Scuderia Amburgo vor Unterkunft

Bild
Der Stahl der frühen Tage

Die Fakten

Team: Weichpille, Odila, Seb, Markus, Harterbrocken
Material: Peugeot 204 Break, Peugeot Course, Motoconfort Randonneur, Koga Myata Fullpro, Bianchi, Gazelle Champion Mondial
Kosten: ca. 1700 Euro, komplett mit Unterkunft, Kost, Sprit, Maut etc.
Zeitraum: 02. bis 08.10. 2013
Fazit: macht süchtig

Wir sind Helden!

Routiniert schiebt Signora Gabriela die kleinen Untertassen über die Marmorplatte und legt mit klingelndem Geräusch kleine Löffelchen dazu. Dann faucht und dampft die Cimbali-Espressomaschine, gefolgt vom lauten Klopfen des Siebträgers auf die Pulverschublade. Geduldig warten drei Ragazzi auf ihre Muntermacher, um schließlich mit lautem „Bravi“, „Fantastico“ und allerlei Geschnatter in ihren Tag zu starten. Das ist der Morgen-Sound Italiens. Tausendfach dröhnt dieser Geräuschmix zur Frühstückszeit aus den Bars und Cafés zwischen Südtirol und Sizilien.

Bild
Siena

Doch hier stehen keine Müllmänner, Lehrer und Metzger um 6.30 Uhr am Tresen des Jolly Caffes im Herzen des toskanischen Dörfchens Gaiole, sondern Radfahrer in nostalgisch bunten Wolltrikots samt Uraltbrille, Ledersturzring und Ersatzreifen über der Brust. Die drei Freunde starten nach dem Espresso bei der Eroica – der weltweit wichtigsten Wettfahrt für Fans historischer Rennräder. Um halb sieben sind sie schon spät dran. Wer das Ziel nach 205 Kilometern noch bei Tageslicht erreichen will, sollte früh starten. Die Ersten sitzen gar schon seit fünf Uhr in den Brooks-Ledersätteln ihrer historischen Stahlmaschinen von Bianchi, Colnago oder Pinarello. Ein Stundenmittel von 20 km/h erreichen nur die Fittesten der rund 5.000 Starter. Flach und damit schnell zu fahren, ist die Region um Siena nirgends.

Im Gegenteil: Oft türmen sich giftige Rampen von bis zu 23 Prozent vor den Hobbysportlern auf, die ihnen alles abverlangen. „Die Berge sind eigentlich nicht schlimm“, stöhnt Sebastian Borsch aus Hamburg, nach dem er die lange und steile Steigung nach Montalcino bewältigt hat. „Aber der Schotter macht dich fertig.“ Mehr als die Hälfte des Kurses führt nämlich über Naturpisten, den „Strade Bianche“. Die weißen Straßen waren für L’Eroica-Erfinder Giancarlo Brocci sogar der Grund dafür, die Veranstaltung ins Leben zu rufen. Den losen Belag aus dem für die Region typischen Marmorsteinchen wollten die Straßenbaubehörden eigentlich durch feste Asphaltdecken ersetzen. Brocci sah dadurch die Schönheit seiner Heimat bedroht und rief mit einer Handvoll Freunden vor 17 Jahren die Heldenfahrt ins Leben.

Bild
Strade Bianche

Bild

So gesehen ist die Eroica also eine Demofahrt per Rad auf die extrem sportliche Art. Nie hatte Brocci mit einer derartigen Resonanz gerechnet. Die 5.000 Startplätze sind im Nu vergriffen; nur 1.000 Ausländer werden per Losverfahren zugelassen. Sebastian Borsch hatte Glück und ist einer von nur rund 250 deutschen Teilnehmern. „Es ist ein großes Privileg, hier fahren zu dürfen“, sagt er und stürzt sich wagemutig in die nächste Abfahrt. Auf den nächsten 75 Kilometern nach Asciano sieht das Höhenprofil wie das gefährliche Gebiss aus Sägezähnen aus: rauf, runter, rauf, kurz flach weiter rauf und dann steil durch tiefe Schotterspurrillen wieder runter. Im Ziel wird Borsch 3.500 Höhenmeter bewältigt haben, die sich indes anfühlen wie 5.000. Mindestens.

Bild
Seb Borsch bei Siena

Bei der Schussfahrt ins Tal erreichen die mutigen Fahrer Geschwindigkeiten von 60 km/h und mehr mit ihren 40 bis 50 Jahre alten Stahlrennern und antiquierten Mittelzugbremsen. Für Sicherheitsapostel ein Alptraum. Denn einen Helm trägt keiner. Die Standardkopfbedeckung besteht meist aus klassischen Stoffrennmützen von Peugeot, Brooklyn oder Cinelli. So wie früher eben: gefährlich, verwegen, mutig – die „Heldenhafte“ trägt ihren Namen völlig zu recht. Damit die Großtat für die Nachwelt dokumentiert wird, gibt es an mehreren Durchfahrtstationen einen Stempel ins Fahrtenbuch gedrückt.

Wichtiger ist den meisten aber die Verpflegung. Statt Energieriegel und Isodrinks wie bei normalen Hobby-Radrennen, werden bei der Eroica toskanische Spezialitäten aufgetischt. Und dazu gehört natürlich auch der Chianti. Bereits bei der ersten Kontrollstelle kreisen die ersten Rotweingläschen. Im Radsport hat diese Art Doping schließlich Tradition. Und Traditionen werden bei der Eroica ganz, ganz groß geschrieben.

Neben der extrem fordernden Variante können die Teilnehmer die Veranstaltung auch genussorientiert fahren. Als Optionen gibt es kürzere Runden über 135, 75 oder 38 Kilometer. Bei überschaubarer Distanz schmeckt der Vino rosso bereits um neun Uhr morgens vorzüglich und hebt die Heldenstimmung. Dazu wird Salami gereicht und Käse und zur Mittagszeit dampfender Eintopf von der offenen Feuerstelle, serviert von Landfrauen in toskanischer Tracht.

Bild
Chianti classico

Kein Zweifel: Bei heroischen Inszenierungen laufen die Italiener zu Höchstform auf. Es ist die Mischung aus Radsport-Historie, lokaler Kulinarik und vor allem der grandiosen Landschaft der Toskana, die der Eroica ihren unvergleichlichen Pathos beschert. Glänzende Lycra-Hosen und signalfarbene High-Tech-Funktionsshirts sind hier so fehl am Platz wie weiße Alba-Trüffel auf Wattebrötchen von McDonald. Mehr Radsport-Oper als ins Gaiole geht einfach nicht.

Und trotzdem findet die „Heldenhafte“ inzwischen Nachahmer. So fand bereits im Mai die erste L’Eroica in Japan am Fuße des Fuji statt. Im Juni folgt in der neuen Radsport-Großmacht England eine britische Variante des Zweiradspektakels. Da ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Vintage-Welle auch nach Deutschland schwappt. Professionelle Veranstalter brauchen sich da aber keine Profit-Hoffnungen machen. Der Großteil der Erlöse aus Start- und Standgebühren fließt in gemeinnützige Projekte; die meisten Helfer arbeiten ehrenamtlich.

Je länger der Tag, desto größer die Dramen. So erreicht ein englisches Trio kurz vor dem Gipfel eines Berges plötzlich einen Radfahrer, der wie eine Ameise auf dem Boden liegt und alle Viere von sich streckt. Die Gruppe ist geschockt. Was zunächst aussieht wie ein Sturz oder Herzinfarkt, entpuppt sich zum Glück als akute Erschöpfung. Der Mann auf dem Boden heißt Vincenco und hat sich zur Regeneration einfach auf die Straße gelegt. „Grazie, grazie, grazie“, wehrt er jede Unterstützung ab. Er will einfach nur seine Ruhe. Zwei Stunden später sieht man Vincenco in einer Bar in Gaiole: apathisch, wortlos, gnadenlos erschöpft, einfach nur fertig, leer, aber sehr, sehr glücklich. Er hat es geschafft. Ein stiller Sieger. Ein ganz Großer. Ein Held!

Auch Sebastian Borsch wird noch Tage, Wochen und Monate von seiner L’Eroica zehren. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit ist er mit seinem Koga Myata Full-Pro ins Ziel gerollt und versucht das Erlebte zu sortieren: diese Landschaft, diese Stimmung, diese Verausgabung – wer die L’Eroica geschafft hat, blickt irgendwie weiter als bis zum Horizont. Liegt es vielleicht am Chianti, dass die Eroica eine Art bewusstseinserweiternde Aura hat? Im Jolly Caffe kreisen jetzt jedenfalls bauchige Gläser mit tiefrotem Rebensaft. „Salute“, ruft einer in die Runde. Dann klingeln die Gläser. Die Botschaft ist klar: Wir sind Helden! Wenn auch nur für diesen Tag.

Bild
Peugeot-Zahnkranz von 1936 vor Peugeot Kombi von 1972

Bild
Teilmarkt

Bild
Teamautotreffen : Fiat 132 und Peugeot 204 Break

Bild

Bild
Erik Zabel, startete auf Cinelli

Bild
Vorm Start, 6.30 Uhr

Bild
Noch mehr Helden

Bild

Bild

Bild

Bild
Start zur 78er Runde

Bild
Verpflegung nach 150 Kilometern

Bild
Seb im Ziel
Benutzeravatar
Silva Saxonica
C-Lizenz-Schreiber
Beiträge: 23
Registriert: 14.01.2013, 21:56
Wohnort: Reinbek

Beitragvon Silva Saxonica » 12.10.2013, 21:53

Wunderschöner Bericht, Harterbrocken. Liest sich, als wäre man dabei.

Hast Du mal überlegt, Dein Hobby zum Beruf zu machen? Gute Schreiber werden ja gesucht...

;)
Silva Saxonica, der Waldbearbeiter
Benutzeravatar
Stauder Volker
A-Lizenz-Schreiber
Beiträge: 199
Registriert: 17.08.2010, 23:53
Wohnort: Hamburg

Beitragvon Stauder Volker » 13.10.2013, 10:19

Dein fesselnder Bericht verbunden mit den Bildern und der Schilderung von Einzelschicksalen lässt einem die Atmosphäre dieser L'Eroica hautnah nachfühlen. Man wäre gern dabeigewesen, aber wie Du schon erwähntest, ein schwieriges Unterfangen bei den kontingentierten Startplätzen. :D
Im Vordergrund steht der Spaß und das Team
Benutzeravatar
kocmonaut
A-Lizenz-Schreiber
Beiträge: 864
Registriert: 06.11.2012, 21:50
Wohnort: Schleswig-Holstein

Beitragvon kocmonaut » 13.10.2013, 21:53

Hallo allerseits,
Hallo Harterbrocken,

wie schön dass es unter der radfahrenden Zunft weitere Liebhaber der L'Eroica in/und der Toskana gibt.

Ich habe das große Glück dass mein Schatz in der Toskana geboren wurde. So machen wir alljährlich zur Vendemmia (Weinlese) und zur L'Eroica Heimaturlaub in der Toskana.

Da ich jedoch modernes Material und das Tragen des Helms bevorzuge (ich gehe mit dem Helm ins Bett munkelt man) fahre ich lieber die ganzjährig ausgeschilderte Permanente der L'Eroica mit meinem Crosser. Am Tag der Helden bin ich mit meinem Schatz als Supporter/Fotograf/Wasserreicher und Pannenhelfer im Einsatz. Hier ein paar unser Bilder:

Bild

è vero!: es wird reichlich und üppig aufgetischt. Die von Harterbrocken erwähnte leckere Suppe heißt übrigens "ribollita" - d.h. "wieder gekocht" und ist (wie die gesamte toskanische Küche) ursprünglich ein Arme-Leute-Essen.

Bild

Das ganze wird wie von Harterbrocken beschrieben in altertümlicher Landestracht kredenzt.

Auch die Helden / gli Eroici präsentieren sich in alter Wolle:

Bild

Bild

Wer kein Servicefahrzeug dabei hat ...

Bild

... sieht irgendwann so aus:

Bild

... schaut den anderen zu und kann vielleicht noch die Landschaft im Hintergrund genießen:

Bild

Bild

Wie gesagt: man muss nicht die L'Eroica fahren um zur L'Eroica zu fahren. Die ganzjährig ausgeschilderte Permanente, die Atmosphäre bei der L'Eroica, das Essen, der Wein, die Landschaft, die Wanderwege, unzählige preiswerte Agriturismi locken auch so ins Chianti im Herzen und in den angrenzenden Süden der Toskana.

kocmonaut
Benutzeravatar
grenzenlos
C-Lizenz-Schreiber
Beiträge: 49
Registriert: 02.09.2013, 16:48
Wohnort: Deutschland
Kontaktdaten:

Beitragvon grenzenlos » 14.10.2013, 06:41

Moin,
prima Bericht. Tolle Fotos. Knallharte Leistung! :)
Grüße an alle Helden/innen von Wi + Gi Grenzenlos
Grüße Wi grenzenlos
www.grenzenlosabenteuer.de
Benutzeravatar
Halbrenner
A-Lizenz-Schreiber
Beiträge: 141
Registriert: 31.03.2013, 16:03
Wohnort: Altona-Altstadt
Kontaktdaten:

Beitragvon Halbrenner » 16.10.2013, 10:13

Danke für den großartigen Bericht, Harterbrocken!

Ihr seid echt Helden! Das nenne ich 'mal "cycling with a bit of style" ... :cool: :)
Altonaer Bicycle-Club von 1869/80.
Benutzeravatar
kocmonaut
A-Lizenz-Schreiber
Beiträge: 864
Registriert: 06.11.2012, 21:50
Wohnort: Schleswig-Holstein

Beitragvon kocmonaut » 21.10.2013, 22:39

Hallo allerseits,

Einen habe ich noch: Dieses spanische Pärchen - besser gesagt Trio (KleinQuaki ist im Anhänger) ist die Permanente der L'Eroica als mehrtägige Etappenfahrt gefahren.

Bild

aus der Ferne

Bild

und dichter

Hier haben sie zwar Asphalt unter den Füssen, aber immerhin rund 20 % Anstieg im Nacken. Dafür strahlen sie noch ganz ordentlich. Ich finde das irre

kocmonaut
Benutzeravatar
grenzenlos
C-Lizenz-Schreiber
Beiträge: 49
Registriert: 02.09.2013, 16:48
Wohnort: Deutschland
Kontaktdaten:

Beitragvon grenzenlos » 23.10.2013, 10:15

Hallo kocmonaut,

du findest das irre! Ich auch! :)

Wir haben mal in Thailand ein Pärchen mit Anhänger getroffen. Da waren Zwillinge drin. Die Welt ist verrückt und schön. :D
Grüße Wi grenzenlos
www.grenzenlosabenteuer.de
Benutzeravatar
Berhak
Hobby-Schreiber
Beiträge: 7
Registriert: 14.10.2011, 21:35
Wohnort: Timmendorfer Strand

Beitragvon Berhak » 06.11.2013, 17:31

Hallo Harterbrocken,

das find ich ja witzig. Ich wohne in Hemmelsdorf. Ich war 2011 dort und bin zum Kennenlernen die 75 km gefahren. Ich habe keinen Teilnehmer aus unserer Gegend getroffen. Wir wollen 2014 wieder hin. Sollten uns mal treffen, ob da was zusammen möglich ist.

Mein Video von der Teilnahme L´Eroica 2011 findest du hier:

http://www.youtube.com/watch?v=yRTiZk7ueFg

Grüße aus der Nachbarschaft.
Berhak
Benutzeravatar
Helmut
Admin
Beiträge: 12394
Registriert: 03.04.2006, 22:15
Wohnort: Hamburg-Tonndorf
Kontaktdaten:

Beitragvon Helmut » 29.06.2015, 01:03

Berhak hat geschrieben:Mein Video von der Teilnahme L´Eroica 2011 findest du hier:

http://www.youtube.com/watch?v=yRTiZk7ueFg
Das ist der Mann, der dieses mit einem HFS-Bambi gekrönte Video fertigte. Gestern getroffen am RTF-Depot in Hohwacht/Neudorf.

<IMG src="http://bilder.helmuts-fahrrad-seiten.de ... %20722.JPG">
Wenn's um die Wurst geht, sollte man gut abschneiden.

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast