Tour nach Leiden oder Tour der Leiden? Leiden – ist eine kleine Stadt ca. 30 km südlich von Amsterdam. Wie der Zufall es will, habe ich dort Mitte Juni beruflich zu tun. Inspiriert durch Torbens Tour von Hamburg nach Garmisch und angestachelt durch die eher spaßig gemeinten Worte meiner Kollegen: „Da fährst Du ja wohl mit dem Rad hin“, entstand vor ca. 4 Wochen der Gedanke, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ich machte es wie Torben, erzählte vielen Bekannten davon, so gab es irgendwann kein Zurück mehr

Also mal eine mögliche Route mit Komoot geplant. Ungefähr 470 km waren das Ergebnis – machbar! Trainingsseitig überhaupt nicht auf Langstrecke ausgelegt, sollte es allerdings eine echte Herausforderung werden. Himmelfahrt unternahmen Stefan und ich dann eine 170 km Testrunde, die uns an diesem Tag aufgrund der Wetterbedingungen nahezu ans Limit brachte. Oh mein Gott! Das war gerade mal etwas mehr als ein Drittel der geplanten Strecke. Ab nun saß ich jeden Tag auf dem Bike und radelte Strecken zwischen 50-80 km, um Beine und Po vorzubereiten. So kam ich in 10 Tagen auf knapp 700 km, das musste als physische Vorbereitung reichen. Auch gedanklich hatte ich mich inzwischen auf das Kommende eingestellt. Nur die Wettervorhersagen (Unwetterwarnungen) bereiteten mir einiges Kopfzerbrechen und sorgten für eine massive Anspannung.
Am 11.06.19 fuhr ich mit dem Wagen in die Firma, das Rad und alle Sachen noch im Kofferraum. Draußen regnete es und mein Interesse galt ausschließlich dem Niederschlagsradar. Gegen Mittag sollte es besser werden. Irgendwann gegen 10.00 Uhr hielt ich es nicht mehr aus, zog mich um und startete von Hoisbüttel aus, mit dem Rad in der Bahn Richtung Harburg. Aufgrund des Stresslevels habe ich mir die 30 km quer durch Hamburg zu Beginn meiner Tour gespart.

(Harburg vor einem Bäcker kurz vor dem Start, ich glaube Vorfreude kann man bei mir nicht erkennen

In Harburg trocken, noch schnell ein Stück Kuchen und um 12:00 Uhr saß ich auf dem Rad. Nach 30 km Regentropfen – bitte nicht! Zum Glück blieb es bei einem kurzen Schauer und ab nun wurde es sogar sonnig und angenehm warm. Der Wind kam konstant leicht von vorn, zu 80% des Jahres nicht verwunderlich, wenn man Richtung Westen fährt. So waren die ersten 110 km Richtung Fähre in Bremen von Unterlenkergriff und Zurückhaltung im Krafteinsatz geprägt, um nicht hier schon zu überziehen. In Nähe Bremen waren dann CX-Qualitäten gefragt. Es ging auf eine 3 km Schotterstrecke, die wohl ein großer Teil unserer Straßenrennradkollegen aus Angst um ihr Rad umfahren hätten. Aus Erfahrung weiß ich, dass (m)ein Rennrad einiges verträgt und so gab es kein zurück.

Schon wenige Kilometer weiter folgte ein Sandweg entlang eines Kanals. Sorgt natürlich für Abwechslung, ist dann aber doch nicht erste Wahl für schmale Reifen


Irgendwann durchquerte ich Cloppenburg und die Zeit verrann ohne, dass ich mich wirklich erinnern kann, was in den letzten Stunden passiert war. Gegen 21:30 Uhr 220 Km), irgendwo zwischen Cloppenburg und Nordhorn, traf ich meine Vorbereitungen für die Nacht. Weste, Arm- und Beinlinge anziehen, Licht ans Rad montieren, ein bisschen Stretching und eine Kleinigkeit Essen. Es wurde Dunkel, aber es blieb bei angenehmen Temperaturen. So rollte ich durch die Nacht, was ich grundsätzlich ganz gern mag, da zum einen oft der Wind nachlässt und zum anderen auch der Verkehr. Ich nutzte vorwiegend Radwege, was es in der Nacht wiederum komplizierter machte, da deutsche Radwege nicht immer die beste Qualität haben


(Nachts auf einer Brücke in Deventer, eigentlich wollte ich die beleuchtete Altstadt fotografieren, aber das gab die Handykamera nicht her.)
Um den Radweg selbst, brauchte ich mir also keine Sorgen machen, dafür stieg das Wanderverhalten der holländischen Fauna in Richtung Morgendämmerung erheblich. Von Dammwild, Mader, Hasen bis Bache mit Frischlingen war alles vertreten und kreuzte meinen Weg. So war ich doch froh, als die Nacht endete. Ich fühlte mich erstaunlicher Weise immer noch recht gut und war weiterhin guter Dinge. Gegen 06:30 Uhr (420 km) stoppte ich, um eine kurze Nachricht an die Familie zu senden. Ich bin zwar schon groß, allerdings ist es ja doch nicht so ganz ungefährlich allein durch die Nacht zu fahren. Meine Liebste war also erleichtert und motivierte mich für die letzten Kilometer, diese sollten allerdings wirklich zäh werden. Es begann nach wenigen Metern, da flüsterte das Navi was von Singletrail. Das ist etwas, was Du nach über 400 km nicht brauchst. Zum Glück war es nur ein ca. 2 km Waldweg, was bei schwindenden Kräften aber auch Deine volle Konzentration fordert. Ab hier ging es sehr hakelig kreuz und quer auf kleinen Wegen und Straßen, deren Qualität hier auch zu wünschen übrigließ. Wer hat bloß diese Route geplant? Gegen 8:00 Uhr fing es an zu regnen, ich will mich wirklich nicht beschweren (es hätte auch viel schlimmer kommen können), aber zu dem Zeitpunkt war ich nur noch genervt. Ich hatte auch keinen Bock mehr meine Überschuhe auszupacken, was ich wenig später doch tat, weil ich eiskalte Füße bekam. Und so reihte sich ein Stopp an den nächsten, ohne dass wirklich Kilometer auf den Zähler kamen. Aufgeben kann man ja bekanntlich bei der Post und war so, kurz vorm Ziel keine Option. Also rauf aufs Rad und weiter. Ich kam immer näher an die angepeilten 470 km, nur von Leiden nichts in Sicht, nicht mal ein Verkehrshinweisschild mit einer Entfernungsangabe. Mental gibt es für mich beim Radfahren nahezu nichts Schlimmeres, als die Kilometervorgabe erreicht zu haben, aber nicht am Ziel zu sein. Ich hätte heulen können. Dann tauchte er auf, der ersehnte Hinweis – Leiden 12 km. Man reist sich zusammen und funktioniert einfach nur noch. Die letzten Meter durch die Stadt, wieder volle Konzentration, um sich nicht aus Unachtsamkeit nochmal lang zu machen. Dann ist es 09:30 Uhr ich stehe nach 484 km im strömenden Regen vor unserem Hotel in Leiden. Und – keine Sau interessierts, kein Bürgermeister, kein Kollegen Empfangskomitee (das sitzt in der 5. Etage beim Frühstück)


In diesem Sinne. Game on

PS: entschuldigt, dass es nur wenige Bilder sind, aber ich bin kein radelnder Fotograf
